(Aus: „Ü30 – Erwachsen werden wir später„)
„Ob ich mich in diesem Buch zum Helden meiner eigenen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anderes diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.“ Das ist der erste Satz aus David Copperfield, einem Roman von Charles Dickens aus dem Jahre 1850. Sie macht das gerade geöffnete Buch wieder zu. Sechzehn Mal hat sie es schon gelesen. Sechzehn Mal hat sie es verschlungen. Jedes Mal, wenn etwas in ihrem Leben schief geht, liest sie dieses Buch. Es ist ihre Kuscheldecke, es gibt Sicherheit. Im Gegensatz zu ihrer eigenen Geschichte weiß sie in jedem Moment dieser Geschichte, wie es weitergeht. Ein gutes Gefühl. Sie weiß, wie die Geschichte endet. David Copperfield ist zum Helden ihrer Leidensgeschichte geworden.
„Ich mag David Copperfield“, sagt sie. „Er hat aber nichts mit dem Exfreund von Claudia Schiffer zu tun“, fügt sie hinzu. Mit diesem und weiteren ähnlichen Sätzen versucht sie, in Bars oder Clubs Männer ins Gespräch zu verwickeln. Abend für Abend.
Meistens stößt sie auf Unverständnis. Kaum einer lacht darüber. Immerhin scheint der dunkelhaarige Typ, mit dem sie heute Abend an der Bar sitzt, zu wissen, dass der David Copperfield, von dem sie spricht, nicht zaubern kann. Kurz entschlossen geht sie mit zu ihm nach Hause.
Als sie seine Wohnung betritt, ist sie nicht vorbereitet auf den Anblick der vielen Bücher und auf das, was der Anblick in ihr auslöst. Die Bücher sind überall! Es riecht sogar nach Büchern. Sie hält die Luft an, wie um den Geruch zu konservieren. Ihre Hände fangen an zu schwitzen. Der Flur, der zu den anderen Zimmern der Wohnung führt, ist sehr lang. Regalbretter auf beiden Seiten. Vom Boden bis zur Decke – Bücher. Er zieht sie mit der Hand schnell in das Schlafzimmer, so dass ihr keine Zeit bleibt, sich die Bücher genauer anzuschauen. Sie kichert aufgeregt.
Im Schlafzimmer gibt es keine Bücher. Im Gegensatz zu dem voll gestopften Flur ist dieses Zimmer fast steril. Die Aufregung, die sie noch vor wenigen Sekunden verspürte, ist weg. Nur ein Bett und ein großer Fernseher stehen im Zimmer. Er schaut ihr tief in die Augen. Sie nimmt ihn beim Arm und führt ihn zurück in den Flur.
Leidenschaftlich drückt sie seinen Rücken an die Regalbretter. Sie küsst ihn auf den Mund. Ihre Hand auf seiner Brust. Er küsst sie schüchtern zurück. Ihr Blick fällt auf eine ledergebundene Ausgabe von Krieg und Frieden. Sie küsst ihn jetzt härter und bemerkt gleich links von ihr ein zerlesenes Exemplar von Fänger im Roggen. Er vergräbt seine Hand in ihrem Haar. Sein Kopf verdeckt die Hälfte von Kafkas Amerika, nicht die SZ-Ausgabe. Seine Zunge fährt langsam an ihren Zähnen entlang und sie entdeckt Salman Rushdies Satanische Verse als Taschenbuch. Sie bekommt eine Gänsehaut. Während er ihr die Bluse aufknöpft, berührt sie die Buchrücken von Don Quixote, der Blechtrommel und einer Kurzgeschichtensammlung von Raymond Carver auf Englisch. Sie zieht seinen Pullover über seinen Kopf und nutzt den unbeobachteten Moment, einen Band mit gesammelten Werken Shakespeares aus dem Regal zu ziehen. Ihm scheinen die Regale jetzt auch zu gefallen. Er atmet heftig und rutscht am Regal entlang in eine sitzende Position. Ein paar Taschenbücher fallen dabei herunter. Krimis. Sie lacht. Er fummelt an ihrem Gürtel herum und sie entdeckt eine gebundene, antike Ausgabe von David Copperfield. Sie jauchzt auf. Er zieht ihr die Hose bis zu den Knien herunter. Sie zieht das Buch ein wenig aus dem Regal, um den Einband zu bewundern. Er ist nicht aus Leder, fühlt sich nach Leinwand an.
„Würdest du dich bitte auf mein Gesicht setzen?“, fragt er höflich. Er hat sich inzwischen auf den Flurboden gelegt. Sie streicht weiter über den rauen, harten Einband von David Copperfield und nickt. Weil ihre Füße noch in der Hose stecken, steht sie ein bisschen wackelig auf den Beinen. Sie kann sich nicht entschließen, das Buch loszulassen. Ihre Hand, noch klamm und schweißig vor Erregung, rutscht ab und das Buch und sie fallen auf den auf dem Boden liegenden Liebhaber. Sie fällt auf seine Beine. Das Buch trifft mit einer Ecke seine Schläfe. Er gibt ein merkwürdiges Geräusch von sich. Sie lacht, setzt sich auf und greift nach dem Buch. Alles noch dran. Er liegt bewegungslos mit nacktem Oberkörper auf dem Rücken. Blut läuft aus seinem rechten Ohr. Sie stupst ihn ein wenig an, sein Kopf wackelt schlaff hin und her. Sie öffnet das schön eingebundene Buch und liest: „Ob ich mich in diesem Buch zum Helden meiner eigenen Leidensgeschichte entwickeln werde oder ob jemand anderes diese Stelle ausfüllen soll, wird sich zeigen.“
Mareike Barmeyer
(Aus: „Ü30 – Erwachsen werden wir später„)